Adventspost

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Liebe Leserinnen und Leser unserer Adventspost,

Wir befinden uns an einem gewöhnlichen Wochentag im Herbst. Das Handy klingelt gegen 9.30 Uhr, mehrmals hintereinander. Die Rettungsleitstelle meldet sich freundlich und ohne Umschweife mit der niederschmetternden Nachricht: „… Heute früh ist ein kleines Kind aus eurer Einrichtung gestorben. Ganz unerwartet und (noch) unklarer Ursache. Die Kolleg*innen sind wie benommen von der Unglücksbotschaft. Die Notfallseelsorgerin ist bereits vor Ort. Es wäre gut, du fährst sofort hin.“ Für kurze Zeit bleibt die Welt stehen: Bei uns? Ein Kind tot?

Das kann nicht sein! Das glaube ich nicht! Das will ich nicht!
Ich sage sofort alle weiteren Termine ab und haste auf der A14 nach Halle, begleitet von der vertrauten Stimme meiner Kollegin am Telefon, die mich durch die Autolautsprecher umgibt. Im Stop and Go während der einspurigen Abschnitte ertrage ich die innere Anspannung kaum. Ungeduldig starre ich das Navi an und beobachte es beim ständigen Weiterspringen der Ankunftszeit. An der Abfahrt Trotha sind es genau noch 17 Minuten bis ich bei euch bin. Ich halte noch kurz, um Kerze, Karten und Blumen zu kaufen. In der Dienststelle angekommen ist die Kripo in vollem Gange ihre Arbeit zu verrichten, die nur bedingt mit der schmerzlichen Traurigkeit und der seltenen Stille in unserem sonst so frohen Haus zu tun hat: die Polizei will Kopien und Übergabeprotokolle, U-Heft und Entwicklungsberichte. Irgendwer bringt mechanisch das Erfragte herbei.

Da sehe ich Euch sitzen, still und mitgenommen, die Kerze in Eurer Mitte auf dem Tisch. Ihr wurdet alle persönlich und direkt von einer Kollegin angerufen und eingeladen zu kommen, damit niemand mit seinem Kummer allein ist: Ihr, meine liebgewonnenen Kolleg*innen, so vertraut aus unbeschwerten Alltagssituationen mit den Kindern, beim Schuhe-zu-machen und Müll-raus-bringen, beständig im Dialog mit einem unserer anvertrauten kleinen Menschen. Ich höre gern die beruhigenden Stimmen im Hausflur, dass „wir heute die dicke Jacke brauchen“, dass „der Nikolaus bald wieder kommt“ „aber erst mal backen wir noch Fledermäuse für Halloween“ und „dann dauert es nicht mehr lange, bis das erste Türchen aufgemacht wird“ – so geschäftig ist das bei uns im Haus – sonst –im Alltag.

Und jetzt: Ausnahmezustand. Sie lebt nicht mehr, das Bett ist leer, die Sachen liegen unberührt… Ab und zu wird das einvernehmliche Schweigen durchbrochen von Schluchzen und Fragen: Wie sagen wir es den anderen Kindern? Wie wird es ihrem Geschwisterkind damit ergehen? Wer ruft im Krankenhaus an?

„Und was uns sonst so groß und wichtig erscheint, ist plötzlich nichtig und klein.“

Diesen Perspektivwechsel zwischen „groß und wichtig“ und „plötzlich nichtig und klein“, den kennt ihr alle durch eure tägliche Arbeit. Das macht euren Dienst am Menschen zu etwas Besonderem. Ihr tragt diese Fähigkeit in euch: Wesentliches vom Unwesentlichen zu unterscheiden:

Wer in diesen Stunden mit euch zusammen sitzt, kann das gegenseitige Vertrauen spüren: die Kleine in Gedanken, die Taschentücher in den angespannten Händen, den verschwommenen Blick in den Schein der Kerze gerichtet, wird uns gleichzeitig tröstend gewahr, wie kostbar die Gemeinschaft ist. Sie trägt und ist verlässlich. Sie ist Fundament und Lebensquelle, sie schützt vor Verzweiflung und Einsamkeit. Ihr haltet einander im Angesicht des Unbegreiflichen. Liebe und Empfindsamkeit ist in eure Gesichter geschrieben. Ihr wisst wie man einander beisteht.

„Trauern ist der Preis, den wir zahlen, wenn wir den Mut haben, andere zu lieben.“ sagt Irvin Yalom.

Ihr seid so mutig!

Und ihr macht Mut!

Ihr zeigt uns, wie der Lebensfluss langsam wieder an Fahrt aufnimmt und sich weiter durch die Lebenslandschaft schlängelt. So können im Alltäglichen die kleinen Freuden zaghaft wieder möglich werden. Dann geht es eines Tages nach dem Mittagsschlaf wieder um das erste Türchen, was bald geöffnet werden will, dabei zeigt ihr euch Fotos von ihr – und bastelt einen Adventskalender für alle Kinder, die bei uns wohnen. Das Leben geht weiter und sie hat ihren Platz in eurer Mitte. Den macht ihr nun keiner mehr streitig.

Liebe Leserinnen und liebe Leser, spüren Sie, was in diesem Jahr unser Adventsgeschenk für Sie ist? Wir möchten Ihnen Mut machen zu lieben, auch wenn das manchmal unsagbar weh tut. Wir schenken Ihnen dafür einen Blick durch eine sonst verschlossene Tür, auf unsere verletzlichen und empfindlichen Flanken. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir danken Ihnen und Euch für den Mut zu lieben. Wir sind beeindruckt von der Bereitschaft, wie Sie als Mitarbeitende in der Jugendwerkstatt für unsere Kinder und Familien, Eltern und Alleinlebende Zugewandtheit und Liebe großzügig abgeben. Wir danken für Ihren Mut, mit unseren Anvertrauten zu trauern und ihnen Zuversicht zuzusprechen, für sie zu sorgen und einen heimatlichen Hafen zu bereiten und sie auf die Schule und das Leben vorzubereiten. Wir sind dankbar für jeden
Menschen, den Sie vor Unheil und Gefahr bewahren können. Es wird uns bei unserer Arbeit in der Jugendwerkstatt nie erspart bleiben, dass wir ab und an in unseren Herzen verletzt und unsere Seelen dünnhäutig werden. Wer den Mut zur Nächstenliebe hat, dem bleibt der Kummer bisweilen nicht erspart.

Wir wünschen Ihnen allen eine schöne Adventszeit und das Vertrauen, dass es gut werden wird. Wir wünschen Ihnen Mut, mit Ihrer Liebe und Ihren inneren und äußeren Gaben großzügig umzugehen. Möge ein gutes neues Jahr 2024 vor Ihnen liegen, in dem Ihnen eine Gemeinschaft vergönnt ist, die einen Blick hinter Ihre verschlossenen Türen aushalten kann und zu gegebener Zeit zu Freude und zum Feiern aufgelegt ist. Sollte Ihnen diese Gemeinschaft im Moment abhandengekommen sein, heißen wir Sie herzlich bei uns willkommen. In der Jugendwerkstatt findet sich jemand, der es gut mit Ihnen meint.

Wir wünschen Ihnen den Mut, andere zu lieben, trotzdem das so weh tun kann und wir grüßen Sie in diesem Advent.

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